Deutschland leidet in der Corona-Epidemie an einem Dilemma, das weltweit einzigartig ist: dem Erfolgsdilemma. Durch Glück, Verstand und beherztes Eingreifen konnte die Ausbreitung des Coronavirus in Deutschland deutlich verzögert werden. Die Bundes- und Landesregierungen haben – verglichen mit den meisten anderen Ländern weltweit – rasch und konsequent gehandelt. Das Zwischenergebnis: Die Zahl der Neuinfektionen sinkt, die Ansteckungsrate stagniert, zahlreiche Intensivbetten sind leer. Die erwartete Überlastung des Gesundheitssystems ist (bislang) ausgeblieben.
Nach der Krise ist vor der Krise
Dies ist aber nicht das Ende der Krise, im Gegenteil: die Zwickmühle, in der sich die Bundes- und Landesregierungen nun befinden, ist nur noch vielschichtiger geworden. Die eingeführten Kontaktsperren haben offensichtlich zu gut funktioniert. Die Folge: die eben noch als wirksam erkannten Maßnahmen werden nun plötzlich als Überreaktion abgetan, Rufe nach baldigen und immer weitreichenderen Lockerungen werden zunehmend lauter.
Der rückblickende Zweifel an der Notwendigkeit von Maßnahmen ist dabei ein bekannter Effekt. Christian Drosten nennt ihn im Gespräch mit dem Guardian „Prevention Paradox“, andere Autoren sprechen vom „Paradox of Preparation“. Angedeutet wird durch beide Beschreibungen ein Phänomen, das wir in unserer Arbeit als Krisenmanager tagtäglich erleben und dem wir einen Namen gegeben haben: das Erfolgsdilemma.
Deutschland leidet in der Corona-Epidemie an einem Dilemma, das weltweit einzigartig ist: dem Erfolgsdilemma
Das Erfolgsdilemma
Dabei handelt es sich offenbar um ein wahrnehmungspsychologisches Problem, das vor allem im Nachgang von Bedrohungsszenarien durch außergewöhnliche Krisen auftritt. Voraussetzung ist zudem, dass in diesen Situationen durch aktives Krisenmanagement alle oder zu viele der erwarteten und befürchteten negativen Effekte ausbleiben. In einigen Fällen trifft die Betroffenen dieser verhinderten Krise das Erfolgsdilemma: Sie beginnen zu negieren, dass die Krise überhaupt existiert hat.
Der Effekt beobachten wir umso häufiger, je größer der Unterschied zwischen Bedrohung und Entwarnung ist. Wenn die befürchteten Folgen der Krise besonders dramatisch sind und alle Stränge fast unausweichlich darauf zulaufen, die Realität dann aber durch gute Arbeit geradezu ernüchternd normal verläuft ist die gefühlte „Enttäuschung“ vieler Betroffener über diesen wenig spektakulären Verlauf der Krise am größten.
Sind wir „positiv enttäuscht“?
Die Symptome dieser „positiven Enttäuschung“ über das Ausbleiben einer Krise lassen sich oft anhand folgender Phänomene beobachten:
- Eindeutige Krisen-Indikatoren werden rückblickend in Frage gestellt. Selbst dann, wenn sie von Kundenseite überhaupt erst zum Ruf nach Hilfe geführt haben.
- Es werden Einschätzungen zur Lage und zur Bewertung der Situation revidiert, auch wenn diese zum damaligen Zeitpunkt einstimmig geteilt wurden.
- Es werden Maßnahmen als überflüssig beurteilt, auch wenn wenige Tage zuvor gar nicht genug Maßnahmen getroffen werden konnten.
Wichtig hierbei: bei einer Epidemie handelt es sich um ein vergleichsweises einfach zu erfassendes Problem mit dem Virus als eindeutiger Ursache und sterbenden Menschen als dessen Wirkung. Viele Probleme in unserer alltäglichen Krisenbewältigung sind jedoch deutlich weniger greifbar und der Kern des Schadens einer Krise nur selten in wenige Worte zu fassen. Oft ist der angenommene, dramatische Schaden eine drohende Verhaltensänderung, welche durch eine verschobene Wahrnehmung unseres Kunden in den Köpfen seiner wichtigen Stakeholder ausgelöst wird.
Nichts passiert und niemand merkts
Wenn wir in diesen komplexen Situationen unsere Arbeit besonders gut machen, dann passiert: NICHTS. Der Alltag unseres Kunden geht unverändert weiter. Weder für ihn noch für seine Mitarbeiter, seine Kunden, seine Geschäftspartner, seine Zulieferer oder jeden anderen relevanten Kontakt ändert sich irgendetwas. Dieses NICHTS ist dabei oft teuer erarbeitet worden und muss in der Folge oft teuer bezahlt werden.
In diesen Situationen hat zudem niemand mitbekommen, dass NICHTS passiert ist obwohl eigentlich ETWAS hätte passieren müssen. Um dieses Problem noch deutlicher zu machen haben wir ein Extrembeispiel entwickelt, welches wir als „Stahltür-Parabel“ bezeichnen.
Ein Ereignis, das nicht eingetreten ist, kann man nicht messen.
Die Stahltür-Parabel
Stellen Sie sich vor es ist der 10. September 2001. Sie beaufsichtigen gerade den Einbau der Sicherheitstür ins Cockpit des letzten Flugzeugs. Als Beauftragter der Flugsicherheit in den USA haben Sie vor einigen Monaten zusätzliche Anti-Terror-Maßnahmen für Linienflugzeuge durchgesetzt. Eine dieser Maßnahmen ist der Einbau von doppelt gesicherten Stahltüren zum Cockpit, die Angreifern das Eindringen unmöglich macht.
Mit dieser singulären Entscheidung haben Sie soeben den 11. September verhindert. Sie haben damit nicht nur tausenden Menschen in den Twin Towers und im Pentagon das Leben gerettet, sondern auch den Einmarsch der US-Truppen in Afghanistan, den zweiten Irak-Krieg sowie die folgende Destabilisierung des mittleren Ostens verhindert. Die Tragweite ihrer Entscheidung hat damit Dimensionen erreicht, die niemand auch nur im Entferntesten hätte vermuten können.
Wüsste man davon, dann wären Sie ein Held. Aber nicht in ihrer Version der Realität, im Gegenteil. In ihrer alternativen Vergangenheit würden Sie vermutlich ausgelacht und beschimpft, Airlines würden Sie wegen der hohen Kosten verklagen und Piloten, Flugbegleiter sowie andere Crew-Mitarbeiter Sie wegen dieser überflüssigen Maßnahmen verachten. Wahrscheinlich würde ihr Vorgesetzter oder ein politischer Gegner die nächstbeste Chance nutzen, um Sie von ihrem Posten zu verdrängen. Von den verhinderten Toten, den ausgebliebenen Schäden und dem ersparten Leid ahnt niemand etwas. Sie hatten Erfolg – aber niemand weiß davon.
Mit dieser singulären Entscheidung haben Sie soeben den 11. September verhindert. Sie haben damit nicht nur tausenden Menschen in den Twin Towers und im Pentagon das Leben gerettet, sondern auch den Einmarsch der US-Truppen in Afghanistan, den zweiten Irak-Krieg sowie die folgende Destabilisierung des mittleren Ostens verhindert
Zur Nicht-Messbarkeit verhinderter Ereignisse
Solche Beispiele passieren sicherlich häufiger als uns lieb ist, nur erfahren wir nie von ihnen. Denn der Erfolg unserer Maßnahmen zur Abwehr von Krisen muss sich regelmäßig einem Bewertungsmaßstab stellen, dem es sich aufgrund seiner ureigenen Natur grundsätzlich entzieht: der Messbarkeit. Das Grundproblem gelungener Krisenbewältigung ist damit ein Erkenntnis-theoretisches: Ein Ereignis, das nicht eingetreten ist, kann man nicht messen. Jede Zahl in diesem Kontext kann immer nur eine Annäherung an die tatsächlich verhinderten Schäden sein. Konkret: Einen verhinderten 11. September zu schätzen ist unmöglich, jede Annäherung muss um Größenordnungen neben der (nicht eingetretenen) Wirklichkeit liegen.
Im Falle der Corona-Epidemie ist die Alternative zum beherzten Handeln hingegen aktuell durchaus feststellbar: In Frankreich, Italien, Spanien, England und den USA wurde deutlich später reagiert. Auf den Fluren der Krankenhäuser ersticken die Menschen und an den Hinterausgängen stehen die Kühllaster Schlange. Der Luxus einer „Kontrollgruppe“ in der Krise ist einzigartig und in unserer Arbeit sonst nie gegeben. Beim gewöhnlichen Krisenmanagement weiß sonst niemand, welche Konsequenzen ohne die getroffenen Maßnahmen tatsächlich eingetreten wären.
Von der Corona- zur Klima-Krise
Ein ähnlich weltumspannendes Problem ist die Klimakrise. Die Klimabewegung steht dabei vor dem gleichen Dilemma, allerdings mit ungleich größeren Dimensionen der erwartbaren Schäden. Dabei erschweren zwei Punkte die rückwirkende Glaubwürdigkeit der Klimabewegung: Zum einen ist ihr zeitlicher Betrachtungsraum der von Jahrzehnten (nicht wenigen Monaten wie bei Corona), zum anderen sind die Wirkungen ihrer Taten noch deutlich abstrakter, noch weniger „anfassbar“ (im Wesentlichen: weniger starke Wetterereignisse). Die Klimabewegung wird daher massive Probleme haben, ihre Notwendigkeit und Wirkung rückblickend belegen zu können. Besonders hart: Je erfolgreicher die Klimabewegung ist, desto weniger wird man ihr das glauben können.
Denn auch hier gilt: Hat die Klimabewegung Erfolg, so werden die schlimmsten Folgen der Klimakrise ausbleiben. Direkte Klimaschäden werden verhindert, Menschen behalten ihr Leben, die Luft wird besser, Dürren bleiben aus, Arbeitsplätze entstehen, der Wohlstand steigt. Es wird für politische Gegner deshalb ein Leichtes sein mit dem Finger auf die Maßnahmen der Klimabewegung zu zeigen und sie als „unnötig“ und „übertrieben“ abzustempeln. Mit belegbaren Zahlen lässt sich dagegen nur begrenzt argumentieren. Wie gesagt: Ein Ereignis, das nicht eingetreten ist, können wir nicht messen.
Je erfolgreicher die Klimabewegung ist, desto weniger wird man ihr das glauben können.
Jetzt ist Krisenkommunikation gefragt!
Sowohl in der Corona- als auch in der Klima-Krise ist es daher unabdingbar, die vermiedenen Schäden nach bester Möglichkeit logisch herzuleiten, Investitionen herauszustellen, Gewinne deutlich zu machen und all dies in Beispiele zu kleiden („Wenn Deutschland wie Italien reagiert hätte, dann …“). Auch kann es helfen auf bekannte Fehleinschätzungen hinzuweisen (z.B. die „Sunk Cost Fallacy“) und den Menschen Handlungsoptionen anzubieten. Dabei ist die Perspektive unterschiedlichster Systeme – insbesondere Gesundheit, Wirtschaft und Politik – notwendig. Wie dies aussehen könnte beleuchten wir in einem späteren Artikel.